Episode 13

Dr. Julia Schmidt im Equine 74 Podcast

Ohren auf - Hier kommt ein absolutes Must-Hear für jeden Reitsportler! Dr. med. Julia Schmidt, stellvertretende ärztliche Leiterin UKE Athleticum in Hamburg, Fachärztin für Sportmedizin, Manuelle Medizin, Orthopädie und Unfallchirurgie, Verbandsärztin des Landesverbandes der Reit- & Fahrvereine Hamburg e.V. und seit ihrer Kindheit begeisterte Reitsportlerin teilt in dieser neuen hochinteressanten Episode unseres Equine 74-Podcasts ihr umfassendes Fachwissen mit dir.

 

Sie spricht u.a. über ihre Spezialsprechstunde für Pferdesportler, Stabilisations-, Kraft- und Ausdauertraining sowie die Wichtigkeit von Ausgleichssport und Abwechslung im Training.

“Reiten ist sportmotorisch hochkomplex, weil sehr viele Muskelgruppen aufeinander abgestimmt werden müssen,” erklärt Dr. Schmidt, “zum einen, um sich auf einem Pferd halten zu können, zum anderen, um dem Pferd zu vermitteln, was man von ihm will.” Welche Muskeln das genau sind und welche Muskeln zusätzlich trainiert werden sollten, um nicht in eine muskuläre Dysbalance zu geraten, die ggfs. zu Beschwerden führen kann - das erfährst du in dieser neuen Folge unseres Equine 74-Podcasts. 

Transkript

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Heute begrüße ich Dr. med. Julia Schmidt aus Hamburg, Fachärztin für Sportmedizin. Bevor wir in den Podcast einsteigen, möchte ich ein, wie ich finde, tolles Zitat vorlesen. Ich habe es auf der Website von Dressursport Kim gefunden. Es ist ganz aktuell, vom 8. Januar 2024. 

Ich zitiere Michael Jung zum Thema Kommunikation durch Tempo-Unterschiede:

Beim Reiten geht es immer um die Kommunikation mit dem Pferd. Je öfter ich diese Kommunikation übe, umso besser wird sie. Jetzt kommen die Tempounterschiede ins Spiel: durch häufiges Reiten von Tempounterschieden übe und verfeinere ich die Kommunikation mit meinem Pferd. Wie ‚spricht‘ man mit dem Pferd? Durch die Hilfengebung mit Schenkeln, Zügeln und Gewicht – alle drei Hilfen werden bei den Tempounterschieden immer wieder angesprochen und aufeinander abgestimmt.

Ich fand das deshalb so spannend: Er redet über Kommunikation und spricht über Gewicht oder auch über Schenkel. Also Dinge, die man als Mensch, als Sportler braucht.

Über Dr. Julia Schmidt

Bevor wir aber darüber sprechen, möchten wir dich gern ein bisschen besser kennenlernen. Ich lese einmal vor, was ich über dich gefunden habe:

Dr. med. Julia Schmidt, Fachärztin für Sportmedizin, Fachärztin für Manuelle Medizin, Spezialsprechstunde Pferdesportler, Verbandsärztin des Landesverbandes der Reit- und Fahrvereine Hamburg. Orthopädische traumatologische Verletzungen. Leistungsdiagnostik. Mannschaftsarzt SC Victoria Hamburg, Mannschaftsarzt Altona 93.

Ich frage mich, wie man mit 28 das schon alles geschafft haben kann!

Hallo Julia, schön, dass du da bist.

Dr. med. Julia Schmidt: (lacht) Hallo Christian, vielen Dank für die Einladung.

C.D.: Gerne. Erzähl doch mal: Weshalb Sportmedizin und speziell Reiter? Das finde ich sehr spannend.

Dr. J. S.: Sehr gerne. Ich bin selbst eine ganz begeisterte Reitsportlerin. Ich saß das erste Mal auf einem Pferd, als ich drei Jahre alt war. Dazu gibt es auch eine schöne Anekdote: Mein Onkel hatte Pferde. Ich bin an der Longe geritten, ein bisschen aus dem Sattel gerutscht und im Steigbügel hängen geblieben. Das Pferd blieb sofort stehen. Florinda hieß sie, eine ganz artige Stute. Ich wollte sofort wieder rauf und da hat mein Onkel zu meinem Vater gesagt: “Da kannst du dich auf was gefasst machen, die kriegst du nie wieder vom Gaul.” (beide schmunzeln)

Und so war es dann auch, da hat mich das Pferdevirus erwischt. Und ja, dann bin ich dabei geblieben. Vom Ponyreiten über Pflegepferde, erste Reitbeteiligung. Ich habe dann sehr viel Glück gehabt und durfte tolle Pferde reiten. Ich hatte nie ein eigenes Pferd, habe mich Stück für Stück hochgearbeitet und bin dann tatsächlich als Junior auch bis Deutsche Meisterschaften geritten, Dressurreiten. Später habe ich mir auch ein bisschen Taschengeld dazu verdient mit dem Reitsport, habe Unterricht gegeben und Pferde ausgebildet.

Dann habe ich meine berufliche Karriere als Ärztin begonnen im Bereich Orthopädie Unfallchirurgie und war dann natürlich lange im Krankenhaus, habe viel operiert. Da ist mir schon immer mal wieder der eine oder andere Reitunfall begegnet. Später bin ich dann in die Niederlassung, auch schwerpunktmäßig im orthopädischen Bereich, gegangen, habe mit der Sportmedizin begonnen. Ich fand es eigentlich immer schade, dass ich so häufig von meinen Reitkollegen gehört habe, “Ich war beim Arzt. Er hat gesagt, ich darf nicht mehr reiten”, oder “Ich soll mal einen richtigen Sport machen. Reiten sei doch kein Sport.” Da dachte ich: “Das kann doch eigentlich gar nicht sein. Reiten ist doch ein toller Sport. Wie kann ich denn meine Leidenschaft und meinen Beruf vielleicht verbinden, wenn ich schon nicht Berufsreiter geworden bin?”

Dann kam ich auf die Idee, eine Sprechstunde für Pferdesportler zu gründen, und hatte dann vor mittlerweile acht Jahren das richtige Setting am UKE in dieser Sportmedizin, weil wir da eben sehr interdisziplinär zusammenarbeiten, mit Sport-Physiotherapeuten, mit Athletiktrainern, mit Osteopathen. Das ist natürlich ein tolles Setting, um auch den Reitsportler ganzheitlich behandeln zu können. Und so kam es zu der Sprechstunde für Pferdesportler.

Sportmedizin und Reitsport

C.D.: Warum nicht Tiermedizin?

Dr. J. S.: Damit habe ich tatsächlich geliebäugelt. Meine Cousine ist Tiermedizinerin, allerdings für Kleintiere. Ich habe auch tatsächlich mal ein Praktikum bei einem Tierarzt gemacht und habe dann aber sehr schnell gemerkt, dass das auch ein Beruf ist, bei dem man sehr viel im Auto sitzt und sehr viel durch die Gegend fährt. Ich glaube, das ist auch eine fast größere Herausforderung, was das Thema Kommunikation betrifft, weil der Patient mir ja gar nicht sagen kann, wo es weh tut. Davor habe ich Hochachtung. Ich glaube, das ist ein ganz toller Beruf, der aber wirklich so seine großen Herausforderungen hat. Da habe ich es natürlich ein bisschen einfacher, mir kann mein Patient einfach sagen, wo, seit wann und vielleicht sogar, warum es weh tut oder irgendein Problem besteht.

C.D.: Ich beginne einen Podcast immer gern mit Entweder-Oder-Fragen.

Du bist in der Reitsportszene zu Hause, deshalb hast du die Frage eigentlich schon beantwortet. Dressur oder Springreiten?

Dr. J. S.: Dressurreiten.

C.D.: Wenn du dir ein Pferd aussuchen dürftest, mit dem du jetzt einmal Dressur reiten könntest, welches Pferd wäre das aktuell? Oder eins aus der Vergangenheit, bei dem du sagst: “Wow, das ist ein tolles Dressurpferd.”

Dr. J. S.: Ja! Wie heißt der von der Britin? Nicht Charlotte Dujardin, ich komme gleich drauf.

C.D: Der Hengst?

Dr. J. S.: Der Hengst, der Rappe. Ja.

C.D.: Für alle Zuhörer. Ich liefere den Namen nach. Ich weiß ihn auch nicht.

Dr. J. S.: Ich komme gleich drauf.

C.D.: Wir können während des Podcasts googeln, wie er heißt. Heißt sie nicht Fry?

Dr. J. S.: Fry? Genau. Charlotte Fry. Und der Hengst heißt Glamourdale.

C.D.: Genau! Ja, tolles Pferd. Finde ich auch. Sehr schönes Pferd.

Entweder-Oder-Fragen

C.D.: Frühstück oder Abendessen?

Dr. J. S.: Abendessen.

C.D.: Kaffee oder Tee?

Dr. J. S.: Kaffee.

C.D.: Kuchen oder Torte?

Dr. J. S.: Oh, weder das eine noch das andere. Dann lieber Kuchen.

C.D.: Ich weiß nicht, ich frage das einfach mal: Wein oder Bier?

Dr. J. S.: Wein.

C.D.: Sport machen oder Musik hören?

Dr. J. S.: Sport machen.

C.D.: Gespenster oder Außerirdische?

Dr. J. S.: Außerirdische.

C.D.: Zug oder Flugzeug?

Dr. J. S.: Flugzeug.

C.D.: Facebook oder Twitter?

Dr. J. S.: Facebook.

C.D.: Insta oder Snapchat?

Dr. J. S.: Insta.

C.D.: Kino oder Streaming?

Dr. J. S.: Streaming.

C.D.: Ausgehen oder zu Hause bleiben?

Dr. J. S.: Ausgehen.

C.D.: Ich habe gestern gerade ein Bild von dir und Conny (Cornelia Poletto) gesehen. Irgendwo, wo ihr wart…

Dr. J. S.: Genau. (lacht) Definitiv ausgehen.

C.D.: Wäsche waschen oder staubsaugen?

Dr. J. S.: Keins von beiden. (beide lachen) Okay, dann lieber Wäsche waschen.

C.D.: Ich glaube, jetzt haben wir einen guten Eindruck, zumindest ein bisschen.

Training für Reiter

C.D.: Kommen wir zum Thema Sportler, Reiter. Was könnte man als Reiter trainieren, außer sein Pferd? Also Balance, Core, Rücken, Ausdauer oder Kraft oder beides? Das Thema Dehnen ist in anderen Sportarten omnipräsent, finde ich. Ist das auch für Reiter wichtig? Vor dem Reiten, nach dem Reiten? Soll ich es gleich in der Stallgasse machen oder doch lieber zu Hause auf der Yogamatte? Darüber würde ich gerne mit dir sprechen.

Zuerst möchte ich aber auf das Zitat von vorhin zurückkommen: “Durch die Hilfengebung mit Schenkeln, Zügeln und Gewicht – alle drei Hilfen werden bei den Tempounterschieden immer wieder angesprochen und aufeinander abgestimmt.” Es ist aus meiner Sicht schon anstrengend zu reiten. Wird der Körper gefordert beim Reiten?

Dr. J. S.: Ich denke, das ist natürlich immer eine Frage der Definition. Der eine versteht unter Sport vielleicht was anderes als der andere. Reiten ist definitiv eine Sportart und es ist auch eine sehr besondere Sportart, weil sie - und das passt auch sehr schön zu dem Zitat, das du gebracht hast - eben sehr komplex ist. Man muss sehr viel aufeinander abstimmen, um sich zum einen überhaupt auf dem Pferd halten zu können, zum anderen dem Pferd eben auch zu vermitteln, was man von ihm will. Das Ganze ist sportmotorisch hochkomplex, weil so viele Muskelgruppen aufeinander abgestimmt werden müssen. Ich habe tatsächlich sogar irgendwo gelesen, dass man fürs Reiten etwa sieben- bis achtmal mehr Muskeln braucht als fürs Joggen, und da zeigt sich schon, wie schwer vielleicht auch tatsächlich der Begriff “Sport” in der Definition ist. Muss ich immer schwitzen und aus der Puste sein? Nein. Beim Reiten kann es natürlich auch dazu kommen, aber es ist eben gerade diese Abstimmung, diese intermuskuläre Kommunikation, die sehr gut sein muss, um eben auch gut reiten zu können. Das ist für mich auf jeden Fall etwas Sportliches.

Es kommt natürlich auch noch ein bisschen auf die Disziplin an. Jeder Reiter kann sich, glaube ich, vorstellen, dass es natürlich etwas anderes ist, einen Geländeritt zu machen, in einer Prüfungssituation vielleicht auch mit einem hohen Anspruch, als gemütlich im Schritt im Wald auszureiten. Aber das gibt es auch in jeder anderen Sportart. Ich kann ganz locker laufen oder ich gehe ambitioniert, richtig Intervalltraining, joggen. Da gibt es natürlich viele Unterschiede. Das Reiten hat natürlich auch je nach Disziplin noch mal einen ein bisschen anstrengenderen sportlichen Aspekt.

D.: Thema Kraft. Die Pferde sind natürlich sehr kraftvoll, das sind alles muskelbepackte Tiere. Wenn ich dann Reiterinnen wie unsere gemeinsame Freundin Janne (Friederike Meyer-Zimmermann) sehe: Sie ist ja kein Kraftpaket, sondern eine ganz zierliche junge Frau. Sie hat natürlich Kraft, um sich auf dem Pferd halten zu können, aber dazu gehört ja sehr viel Gleichgewichtsgefühl. Aber um ein Pferd zu reiten, brauche ich ja nicht Kraft in dem Sinne, wie wenn ich Gewichte heben will. Trotzdem ist Krafttraining etwas Positives, sicherlich auch für den Reitsport.

Ich höre das immer wieder bei anderen Sportlern, dass die innere Kraft, die Core-Kraft, wichtig ist. Siehst du das beim Reiten auch so? Du hast eben gesagt, es werden so viele Muskeln beansprucht. Gibt es spezielle Muskeln? Könntest du sagen, “Wenn ich Reiter sehe, die zu mir in die Sprechstunde kommen, fällt mir pauschal auf, dass die vielleicht stärkere Innenschenkel haben? Oder eine stärkere Rückenmuskulatur?” Gibt es etwas, bei dem man sagen kann, dass Reiter das mehr trainieren als andere Sportler?

Dr. J. S.: Also es ist auf jeden Fall das, was du am Anfang gesagt hast, diese Core-Stabilität, diese tiefenstabilisierenden Muskeln, die ganz nah an der Wirbelsäule liegen. Die in der embryologischen Entwicklung (entstehende) sogenannte autochthone Muskulatur, die ganz ursprünglich an dem Ort, wo sie entsteht, später zum Einsatz kommt, die wir auch nicht ganz gewillt ansteuern können, sondern die eher reagiert. Das sind diese Muskeln, wenn man mal kurz das Gleichgewicht verliert oder wenn man auf dem Pferd sitzt und die Bewegung des Pferdes ausbalancieren muss.

Das ist eine Muskulatur, die sich leider schon Mitte 30 anfängt abzubauen, wenn wir sie nicht gezielt trainieren. In unserer Welt, in der wir leben, zumindest hier in unseren Breitengraden, ist z.B. alles asphaltiert. Wir haben kaum Herausforderungen, was Balance und Gleichgewicht anbelangt, es sei denn, wir machen eine bestimmte Sportart. Deswegen glaube ich, dass der Reitsport diese Muskelgruppe sehr positiv beeinflusst und trainiert und dass das natürlich auch gesundheitsfördernd ist. Diese Muskulatur ist ganz wichtig, um die Wirbelsäule, die knöchernen Strukturen zu stabilisieren und zu schützen vor Verschleiß, Beschwerden, Verletzungen oder Überlastung. Das Problem beim Reiten ist einfach, glaube ich, dass es nicht alleine ausreicht. Darauf kommen wir gleich noch mal zurück.

Welche Muskelgruppen besonders stark sind? Hm. Wir machen ja einmal im Jahr mit dem Nachwuchskader von Hamburg den Sportmotorik-Test. Da ist es schon so, dass die Rückenstrecker eigentlich immer ganz gut sind, also die, die uns aufrichten, gerade natürlich bei den Dressurreitern, und dass eher die vordere Rumpfmuskulatur ein bisschen zu schwach ist. Die Rückenstrecker sind häufig gut trainiert, es besteht nur leider dann diese Dysbalance. Dazu komme ich auch später noch mal.

Eine Muskelgruppe, die oft fast schon zu stark ist - und da ergeben sich leider relativ viele Beschwerden, die sich bei uns in der Sprechstunde vorstellen - sind die Adduktoren, also die innere Oberschenkelmuskulatur. Wir wissen natürlich alle, wir sollen uns damit nicht festhalten, nicht klemmen. Wenn man sich die reitpädagogischen Bücher durchliest, (liest man vom) perfekten Sitz und dass man ganz locker auf dem Pferd sitzen und möglichst nicht mit dem Bein klemmen soll. Aber am Ende des Tages müssen wir uns natürlich über die Adduktoren ein bisschen fixieren. Gerade die Springreiter haben schon ordentlich Dampf auf den Adduktoren, natürlich auch auf dem Rumpf und auf anderen Muskelgruppen, wenn das Pferd abspringt, um sich dann zu halten, und auch bei der Landung. Es ist eben eine Kombination aus Muskelgruppen, die dann stabilisieren, und dadurch sind die Adduktoren häufig sehr stark beim Reiter. Das führt auch wiederum zu Dysbalancen.

D.: Was ist der Gegenspieler?

Dr. J. S.: Das sind die Abduktoren, die bewegen das Bein nach außen. Ich sage immer, die Abduktoren brauchen wir Reiter nur zweimal oder häufig nur einmal: nämlich beim Aufsteigen und auch nur auf der rechten Seite. Das ist jetzt sehr, sehr provokant formuliert, aber ein Stück ist es so. Das ist zum Beispiel eine Muskelgruppe, die ich definitiv außerhalb vom Reiten trainieren muss, damit meine Adduktoren nicht zu stark werden und damit ich mich nicht in eine muskuläre Dysbalance-Situation hineinmanövriere, die dann wiederum Verkürzungen, Beschwerden verursachen kann.

D.: Ich glaube, ich habe mal in einem Interview mit Ludger Beerbaum gelesen, dass er morgens für einige Minuten oder länger, das weiß ich nicht genau, ganz gezielte Übungen macht für Rücken und Beine, Adduktoren, weil gerade im Springsport viele Profireiter ihre Karriere aufgeben mussten wegen Adduktoren-Problemen, die dann gerissen sind oder so hart waren, dass sie das nicht mehr konnten.

Der Gegenspieler zum Rücken, sind das die Bauchmuskeln, oder ist das was anderes? Weil du sagtest, man trainiert dieses gerade Sitzen gut. Was war da der Gegenspieler?

Dr. J. S.: Es gibt ja die Rückenstrecker. Das sind die, die hinten am Rücken sind, oder die Rumpfstrecker, vielleicht korrekter. Und dann gibt es die Rumpfbeuger und das ist die vordere Muskelgruppe. Dann gibt es noch die Rotatoren, die den Rumpf zur Seite drehen, und dann gibt es auch noch die seiten-eigene Muskulatur. Der Rumpf ist quasi komplett ummantelt von bestimmten Muskelgruppen, die als Spieler-Gegenspieler fungieren, aber auch in Synergien fungieren. Wenn ich mich z.B. drehe, dann spannen sich die Rotatoren an, aber natürlich auch ein Stück die Extensoren, also die Strecker, damit ich nicht nach vorne kippe. Das ist genau das, was die große Herausforderung ist: Diese Muskelgruppen müssen optimal zusammenarbeiten, um bestimmtem sportmotorischen Anspruch gerecht werden zu können.

D.: Ich komme nochmal auf das Zitat von Michael Jung zurück, dass er sagt, Hilfe geben mit Schenkel und Gewicht. Das ist ja das, was du sagst. Balance ist ja dann in dem Sinne, dass ich quasi mein Gewicht nutze. Also ich packe mir nicht mehr Gewicht drauf, damit ich reiten kann, sondern ich verlagere mein Gewicht, und das erfordert eine gewisse Flexibilität im Körper.

Das heißt, wenn ich nichts dagegen trainiere, gegen mögliche Dysbalancen oder Steifheiten, dann werde ich auch im Reiten nicht feiner reiten können. Ich kann zwar meine Schenkel nutzen, ich kann meine Zügel nutzen, aber wenn ich mein Gewicht nicht korrekt einsetzen kann - ob das das Schenkelweichen ist oder eine Traversale oder was auch immer - fehlt mir dann tatsächlich das Gewicht, die Gewichtsverlagerung. Das Gewicht habe ich ja, aber die Verlagerungsmöglichkeit. Das ist, glaube ich, auch sehr komplex.

Das ist auch gar nicht so unterschiedlich beim Dressur- oder Springreiten. Wenn man sich anschaut, wie solche Top-Profis drauf sitzen: man sieht minimale Gewichtsverlagerungen, die die dann auch machen, die Springreiter. Das Schöne ist ja, man sieht fast nie was, was die tun, was es dann ja auch so elegant macht.

Dr. J. S.: Genau. Das ist ja auch gerade der Anspruch, glaube ich, zumindest beim Dressurreiten, dass man die Hilfen eben einfach kaum sieht. Ich glaube, deswegen wird es vielleicht auch von Nicht-Reitern so interpretiert, dass es kein Sport ist. Es sieht so aus: Der sitzt da nur oben drauf. Dass das aber ganz feine Impulse sind, ganz gezielte - ich kann es nur immer wieder wiederholen - ganz gezielte Muskelaktivierungen, die fein aufeinander abgestimmt sind, das sieht der Laie gar nicht. Das ist eben auch das Besondere, glaube ich, an diesem Sport, und auch das Sportmedizinische.

Ich kann manchmal richtig fühlen, was die Patienten mir berichten. Wenn sie z.B. sagen: “Ich kann in der Linkstraversale einfach nicht runter sitzen, ich knicke immer auf der Gegenseite ein.” Sie kommen dann zu mir und fragen: “Habe ich eine schiefe Wirbelsäule? Wieso kann ich das nicht?” Das ist selten ein strukturelles Problem, sondern eben tatsächlich ein Dysbalance-Problem, ein Stück vielleicht auch erlernter Sitzfehler. Da muss man auch immer gucken.

Aber das ist eben das Spannende, glaube ich, dass Reiten eben primär erstmal nicht viel mit Kraft zu tun hat. Der Reitsport ist leider im Moment sehr in der Diskussion, weil wir sehr viel unschöne Bilder sehen, wo sehr viel Kraft bis hin zu Gewalt eingesetzt wird. Das ist genau das, was wir eigentlich in unserem Sport gar nicht haben wollen.

Deswegen ist es auch so wichtig, glaube ich, dass man einen - ich mag das Wort Ausgleichssport nicht - Ergänzungssport hat. Ich betreue ja auch noch andere Sportarten. Fußball hattest Du vorgelesen, aber auch Tennis, Hockey, Golfen, all das. Da sage ich immer, Boris Becker hat auch nicht den ganzen Tag nur auf dem Tennisplatz gestanden. Die machen auch ganz viel Krafttraining, Koordinationstraining. Wir betreuen ja auch den HSV, vom Nachwuchs bis zu Profis, und unsere Fußballspieler kicken eben auch nicht den ganzen Tag, im Gegenteil. Ich glaube, das ist die große Herausforderung im Reitsport, weil der Reitsport an sich schon sehr zeitintensiv ist. Man muss sich dann wirklich die Zeit nehmen, so wie Ludger Beerbaum z.B., zu sagen, okay, morgens knapse ich mir eine gewisse Zeit ab. Man muss wirklich gar nicht viel machen, man muss es nur regelmäßig und das Richtige machen, um einen Ausgleich zu schaffen.

Kraft und Mentalität

D.: Lass uns noch einmal kurz auf das Thema Kraft und Schwitzen zurückkommen. Ich finde, für Profis, auch für Amateur- und Freizeitreiter, ist es anstrengend, wenn sie ein Turnier reiten. Wenn man die Bilder sieht, wenn Springreiter aus dem Parcours kommen, sei es in Aachen oder wo auch immer, und ihnen direkt das Mikrofon hingehalten wird, sind sie außer Atem. Auch wenn man eine Dressurreiterin sieht, also auch eine Isabell Werth, sieht man, dass es sie körperlich angestrengt hat, wenn sie eine große Dressur reitet.

Dazu kommt noch, finde ich, diese mentale Kraft, die man braucht, um in so einem Parcours zu reiten oder eine Dressur zu reiten. Da ist es ganz egal, ob es jetzt ein E-Springen oder eine E-Dressur ist. Das ist auch etwas, das den Körper belastet.

Anders als beim Fußball. Unser kleiner Sohn spielt Fußball, für ihn ist es auch aufregend, aber es ist mehr ein Spiel. Und er hat eben nicht die Verantwortung für ein Pferd unter ihm. Das ist auch so ein Punkt, finde ich: Man übernimmt Verantwortung für das Pferd. Du hast es angesprochen, die Bilder gehen gerade durch die Gazetten und Videos - das (was man da sieht) ist natürlich überhaupt nicht das, was man will. Ich mache relativ viele Podcasts mit Reitern, Springreitern und wenn ich sie frage, bei wem sie gern einmal Springunterricht hätten, sagen alle: Marcus Ehning! Denn das ist einfach das schönste Reiten, das man sich vorstellen kann. Es ist unglaublich! Man sieht nicht, was er macht, und er pfeift durch Aachen, als wäre es ein A-Springen. Das sieht einfach traumhaft aus! Aber es ist eben auch das, dass seine Pferde auch optimal trainiert sind.

D.: Ich würde gern noch mal auf das zurückkommen, was ich vorhin gesagt habe: Dehnen vor dem Reiten oder danach, in der Stallgasse oder zuhause auf der Yogamatte?

Wir trainieren alle unsere Pferde. Meistens haben wir ein, zwei Mal pro Woche Unterricht. Dressurunterricht, Springunterricht, Springstunde. Wir fahren zum Lehrgang, versuchen möglichst viel Abwechslung zu schaffen, da gibt es Stangentraining, Cavaletti-Training… Janne sehe ich ganz oft, wie sie einfach nur trainiert. Sie springt zuhause gar nicht so viel, schon gar nicht hoch, macht ganz viel Basisarbeit mit ihren Pferden. Das heißt, der Reiter an sich hat verstanden: Er muss sein Pferd unheimlich viel trainieren.

Trainiert er sich selbst auch auf dem Pferd? Wenn ich Revue passieren lasse, was du gesagt hast: Ja. Weil du die Muskelgruppen anstrengst oder belastest. Aber was ist denn eine gute Vorbereitung? Außer Ludgers frühmorgendliches Dehnen? Hast du einen Tipp? Geh ins Krafttraining und, keine Ahnung, auf eine Rückenmaschine? Mach viel Rücken, mach viel Bauch, mach Adduktoren und Abduktoren? Gibt es etwas, wo du sagst, “Guck mal, da kannst du dich selbst noch gezielt voranbringen”? Wie du eben sagtest, es kommt jemand in die Sprechstunde und fragt, “Habe ich eine krumme Wirbelsäule?” - Nein, hast du nicht. Es ist eine Dysbalance in deinem Muskelgefüge. Was sagst du ihnen, was sollen sie trainieren?

Dr. J. S.: Man kann allgemeine Muskelgruppen nennen, die beim Reiten aus der Position oder dem sportmotorischen Anspruch vielleicht ein bisschen zu kurz kommen. Am Ende des Tages ist es natürlich etwas sehr Individuelles. Jeder ist natürlich anders gebaut, hat vielleicht auch andere Dysbalancen.

Wir fragen z.B. in der Anamnese auch ganz viel drumherum. Welche Begleitsportarten vielleicht noch gemacht werden, was man für einen Beruf hat, ob man nur sitzt? Da kommen wir sozusagen schon ein bisschen zur ersten Muskelgruppe: Reiten ist ein sitzender Sport und wir sitzen sowieso einfach viel, viel, viel zu viel. Das wäre schon mal der erste Tipp. Wenn du mir wieder so eine Entweder-Oder-Frage stellen würdest, “Fahrrad fahren oder Joggen gehen?”, würde ich “Joggen gehen” sagen, denn Fahrrad fahren wäre eben auch wieder etwas Sitzendes.

Also was soll man machen? Krafttraining? Ausdauertraining? Auch da ist natürlich der Mix aus beidem optimal. Also ein bis zwei Mal die Woche ein Ausdauertraining, das sind klassischerweise Dinge wie Fahrradfahren, Joggen, Schwimmen. Alles, wo ich meine Herzfrequenz ein bisschen nach oben bekomme. Das andere ist ein Stabi-Programm und da ist der Rumpf immer mit dabei, sprich die Core-Muskulatur, Bauchmuskulatur, auch ruhig die Rückenmuskulatur.

Dehnen und Vorbereitung

D.: Was Dehnung und Mobilität anbelangt: Für mich ist Stabilisationstraining immer eine Kombination aus Trainieren der Kraft, also Kontraktion, als auch (der) Verlängerungsfähigkeit. Ein Muskel ist nur gut, wenn er sich gut kontrahieren kann und gut verlängern kann, also auch dehnen kann. Da gibt es ganz coole Tricks. Wenn ich z.B. eine Rumpfbeuge machen will - also ich stehe gerade da und will mit meinen Fingerspitzen den Boden berühren - und ich schaffe das nicht, dann kann ich mich natürlich hinsetzen und versuchen, da zu dehnen.

Es gibt aber auch Muskeln oder auch Menschen, die auf Dehnung eher mit noch mehr Verkürzung reagieren - und dann dehne ich mich und dehne ich mich und komme (trotzdem) nicht runter und bin frustriert. Ich kann aber auch über einen Trick, mit einer anderen Übung - das läuft über das Spiel Agonist-Antagonist - plötzlich erzeugen, dass die Muskelgruppe, die eigentlich verkürzt war, sich häufig auf einmal verlängert.

Bei der Übung mit der Rumpfbeuge z.B. ist das die Aktivierung der Gesäßmuskulatur im Stand. Da muss man die Abduktoren gegen einen Widerstand nach außen aktivieren. Wenn man das zehn Mal gemacht hat und dann wieder die Rumpfbeuge macht, kommt man auf einmal weiter runter, obwohl man gar nicht die ischiocrurale, also die hintere Muskulatur gedehnt hat.

D.: Spannend!

Dr. J. S.: Das sind eben solche Tricks. Man hat ein Erfolgserlebnis, die Muskelgruppe lässt nach. Auch hier gilt, wie so schön und häufig zitiert: Viele Wege führen nach Rom. Man muss eben ein bisschen individuell gucken, was ist das Problem bei demjenigen und welches Training ist für ihn vielleicht das richtige?

Das ist die große Herausfordern: das Richtige zu machen. Es ist schon mal gut, überhaupt etwas zu machen, aber die S-Dressur ist, das Richtige zu machen. Da braucht man dann vielleicht auch etwas Hilfe oder einen Tipp vom Physiotherapeuten oder Sportwissenschaftler, Athletiktrainer, jemand, der sich ein bisschen mit Training auskennt, um zu sagen: “Versuch’s doch mal so!”

D.: Hast du auch einen Tipp, wenn man “Dr. Google” fragen möchte? Gibt es etwas auf YouTube, vielleicht von dir? Hast du eine Website oder das Athleticum, wo du arbeitest, mit z.B. einer Schautafel, was man machen oder versuchen kann, ohne gleich ins Fitnessstudio zu müssen. Das wäre für unsere Hörer bestimmt sehr spannend: Geh auf die Website XY, da gibt es einen Download. Wenn du diese Übungen machst, wird dir das schon helfen.

Würdest du eher dazu raten, das selbst rauszukriegen oder doch lieber einen Trainer zu nehmen oder in ein Kraftstudio oder ein Fitnessstudio zu gehen? Weil man, wie beim Reiten auch, von außen oder von unten doch manche Fehler sieht, die man oben nicht sehen möchte.

Dr. J. S.: Wenn man wirklich schon ein richtiges Problem oder Beschwerden hat, dann ist es schon sinnvoll, dass man sich das einmal klinisch anguckt, orthopädisch, physiotherapeutisch, um auszuschließen, dass nicht doch etwas Strukturelles dahintersteckt, was dann aber auch nicht immer unbedingt das Schlimmste ist. Selbst ein Bandscheibenvorfall ist überhaupt gar kein Grund mehr, (nicht) weiter reiten zu dürfen.

Wir bieten zum einen einen Kurs an, der sich “Athletisch im Sattel” nennt und mit einer Sportphysiotherapeutin stattfindet, die auch selbst reitet. Da sind nur Reiter drin. Man ist also in seiner Community und sie treffen sich mittlerweile zwei oder drei Mal, abends. Es gibt, glaube ich, Montag, Mittwoch, Freitag einen Kurs und der geht immer eine Stunde. Da gibt es ganz spezielle Tipps für die Reiter.

Dann haben wir z.B. für die Adduktoren ein eigenes Übungsmanual zusammengestellt, in dem Übungen dargestellt sind. Da hat Janne auch mitgemacht. Zum einen: Welche Muskelgruppe ist beim Reiten die relevante? Wie kann ich die trainieren? Unten dann auch noch mal eine Beschreibung. Wir sind gerade dabei, dieses Manual zu digitalisieren. Noch haben wir keinen Kanal, wo man sich konkret eine Übung angucken kann.

Ich finde, und ich habe auch gar kein Problem damit, Fremdwerbung zu machen, dass DressurFit von Jessica (von) Bredow-Werndl auch eine sehr gute und feine Sache ist. Da gibt es auch vorgeschaltete kleine Tests, die man gut nachmachen kann und bei denen man schon mal einen Einblick bekommt, “Wo könnte meine Schwäche sein?” Dort werden auch Trainingsempfehlungen gegeben. Das finde ich alles schon gut.

Klar, wenn man es perfekt haben will, ist es schon sinnvoll, dass man einmal individuell drauf guckt. Dann kann man zu uns ins Athleticum kommen und einen sogenannten Reitercheck machen und sich einmal individuell durchchecken lassen. Dann bekommt man einen Trainingsplan, der auf sich abgestimmt ist. Das ist das Wichtige.

D.: Gibt es eine Website für das Manual und die Sprechstunden, über die man auch Kontakt zu Euch aufnehmen kann?

Dr. J. S.: Das geht am besten über unsere Homepage. www.uke.de/athleticum/reitersprechstunde

D.: Und das Manual?

Dr. J. S.: Das ist im Moment noch nicht drauf, aber ich muss das mal draufstellen. Im Moment ist es noch nicht digital, wir sind aber dabei, die Übungen als Video darzustellen. Man kann sich auf der Website aber schon mal einen Eindruck über das Heft verschaffen.

Schlussgedanken

D.: Tausend Dank, das hat Spaß gemacht! Ich denke, dass viele Zuhörerinnen und Zuhörer das genauso empfinden. Ich finde das sehr spannend. Wir haben auch einen Podcast über Ernährung gemacht und auch da war die Quintessenz: Wir tun für unser Pferd wirklich sehr, sehr viel. Da versuchen wir, alles zu optimieren. Wir müssen aber auch an uns selbst denken. Das Richtige essen und trinken.

Hier ist es genauso. Der richtige Ausgleichssport, oder wie du es vorhin genannt hast, der richtige Ausgleich ist entscheidend und bringt einen letztendlich vielleicht auch im Reiten voran.

Das hat wirklich Spaß gemacht. Ich denke, von dem Podcast mit dir werden einige profitieren. Danke, Julia!

Dr. J. S.: Sehr schön. Ich habe vielleicht noch einen kleinen Tipp am Schluss. Das ist nämlich ganz wichtig: Muskeln wollen, wie auch Pferde, gerne ein bisschen Abwechslung haben und man braucht immer einen Progress. Also man braucht immer einen bestimmten Reiz auf den Muskel, damit er kräftiger wird. Deswegen ist es wichtig, auch wenn man vielleicht nur ein Pferd am Tag reitet, dass man sein Programm abwechslungsreich gestaltet. Dass man vielleicht mal ohne Bügel reitet, ein bisschen anderen Input, um in der Muskulatur immer wieder neue Reize zu schaffen. Das verbessert dann sowohl die Kraft als auch die intermuskuläre Kommunikation. Das nur mal so als Tipp für das Reiten: Nicht immer das gleiche Programm abspulen, sondern viel Abwechslung. Das tut dem Pferd und dem Reiter gut.

D.: Wunderbar. Vielen, vielen Dank. Eine schöne Zeit und wir sehen uns bestimmt bald wieder. Tschüss.

Dr. J. S.: Machen wir. Vielen Dank, Christian, hat Spaß gemacht. Tschüss.